12. September
Das Radio ist an und man hört seit gut vier Minuten dieses grässliche Lied, das allem Anschein nach nicht aufhören wird. Ich warte schon viel zu lange, habe die Beine übereinander geschlagen und wippe ungeduldig mit dem linken Fuß. Wenigstens sperren sie die Leute nicht ohne diese ganzen Frauenzeitschriften ein. Vor fünf Minuten hat mir der fette Kerl neben der alten Frau die ‚Glamour’ weggeschnappt und ich frage mich immer noch, was er darin sehen will? Welcher Gürtel zu seiner Glatze passt, die er mit ein paar übrig gebliebenen Strähnen vergeblich kaschiert hat. Lächerlich - wenn die glatzköpfigen Typen das machen, denke ich und schaue, wie er mit den dicken Hot-Dog-Fingern Heidis Gesicht verdeckt, das auf dem Cover abgebildet ist. Nach einigen Sekunden erwischt er mich, wie ich hasserfüllt auf Heidis lachendes Gesicht schaue und natürlich weiß er, dass ich nicht das Model hasse …
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Jetzt durchblättere ich ein anderes Frauenmagazin – ‚Freundin’. Na ja, denke ich, und eine langweilige Seite jagt die andere. Bis zum Ende geht die Jagd.
Die Liste mit den Rezepten darf natürlich nicht fehlen, denn immerhin lesen in dieser Zeitschrift junge Frauen, die von Mama in Sachen Kochen nicht ausgebildet wurden, und nun sehen diese ganzen Verlage es als ihre Pflicht, den Käuferinnen das Kochen beizubringen, damit diese ihre ach so schwerarbeitenden Männer verwöhnen.
Lächerlich - wer soll von diesen Kinderportionen satt werden?
Bevor ich noch mit den ganzen Adressen der angesagtesten Labels zugemüllt werde, stoße ich auf mein Horoskop. Ich bin zwar nicht abergläubisch, aber meine Augen am Horoskop hängen. Demnach ist heute mein Glückstag in Sachen Liebe. So wie an allen anderen 364 Tagen im Jahr. Aber heute ist ein besonderer Tag, meinen die Sterne oder die Möchtegern-Astrologen des Magazins. Heute wird es einen heftigen Flirt geben - zwischen mir und einem Löwen oder einem Zwilling: Die sind heute meine Idealpartner.
Die Kerle im Wartezimmer sehen alle hässlich aus. Der fette Kerl schaut auf und erwischt mich wieder beim Beobachten. Jedes Mal bemerkt er es, wenn ich die anderen anschaue. Als ob meine Blicke schmerzende Signale strahlen, die ihn Qualen erleiden lassen.
Kurz schaue ich die anderen Anwesenden an und merke aus dem Augenwinkel, dass er diesmal nicht guckt, beruhigt vertiefe ich mich wieder in den kurzen Text.
Da kommt auch schon ein Löwe rein, hoffe ich zumindest. Noch hat er mich nicht bemerkt; nach einigen Sekunden falle ich ihm dann doch auf. Er lächelt, ich lächele zurück und mehr kann in einem Wartezimmer nicht passieren. Der Rest spielt sich in unseren Fantasien ab. Das eigentlich auch nicht, da sich auch die Fantasie weigert bei einer gewissen Anzahl von unattraktiven Menschen mitzuspielen.
Die Stimme der Arzthelferin ist wieder zu hören, sie ruft einen Herrn Scherer auf – der fette Kerl schaut ihm beim Rausgehen nach. Bei mir wird er das nicht machen.
Die typische runde Wartezimmeruhr, die bei jedem Sekundenschlag einen Knallfrosch zum Explodieren bringt, hängt über mir. Wie gerne würde ich jetzt das Ding von der Wand nehmen und darauf rumtrampeln, bis die Sekunden nicht knallen. Ich werde mich jetzt beschweren und zum Vorwand werde ich die lange Wartezeit nehmen. Aber dann denkt der Löwe, ich sei eine Zicke und so belasse ich es nur bei einem Augenverdrehen.
Mir fällt wieder das Frauenmagazin ein, das sehnsüchtig darauf wartet weitergelesen zu werden.
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Ich täusche mich wieder, weil ich denke, beobachtet zu werden. Aber warum denke ich immer, beobachtet zu werden, obwohl dies nicht der Fall ist und und mir das auch noch bewusst ist?
Wenn ich mich nicht bald vergewissere, dann wird dieses Gefühl nie aufhören.
Es läuft fast immer so ab, wenn ich mich in einem Wartezimmer aufhalte. Manchmal ist dieses Gefühl angenehm, manchmal nervig und ich fange an meine Umgebung ohne jeglichen Grund zu hassen, weil ich mich von ihnen beobachtet fühle.
Ich schaue zu dem Jungen, er langweilt sich auch, schaut kurz zu mir rüber und lächelt wieder.
Typisch Deutscher, denke ich, viel zu schüchtern, um mir fünf Sekunden länger in die Augen zu schauen.
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Das Radio bringt Nachrichten. Alles, was ich höre, ist, dass es wieder einen Anschlag auf einen Touristenort gab, zahlreiche Tote, darunter drei Deutsche: zwei Rentner und eine junge Frau.
Der Anschlag wurde von radikalen Islamisten verübt, die im Namen Allahs töteten. Diese Nachricht lässt die Wartenden für Sekunden erstarren, keiner blättert, schaut aus dem Fenster und ich wippe nicht länger mit dem Fuß.
Ruhe.
Unter meinen Füßen hat sich unerträgliche Hitze gebildet, die mich zu einem sofortigen Schweißausbruch bringt. Jetzt schaut der Junge mich an - länger als fünf Sekunden. Ich entfliehe seinem Blick und schaue auf den grauen Praxisteppich.
Meine Gedanken stocken, fließen nicht weiter.
Warum schaut er mich so an?
Jetzt sind alle aus ihrer Erstarrung aufgewacht und trotz der Ruhe kann ich den Schock, der diesen Raum allmählich füllt, fühlen. Wieder dieses unangenehme Gefühl beobachtet zu werden, regelrecht observiert.
Verdammt, warum sagt keiner was? Die alte Frau schaut den dicken Kerl an, und er nickt. Was ist hier los? Kennen die sich, stecken die unter einer Decke, was sollte jetzt dieses Nicken?
Die ‚Glamour’ hat er auf den Tisch gelegt; es wäre ziemlich unangebracht jetzt die Zeitschrift zu nehmen, darin zu blättern und so zu tun, als wäre nichts passiert. In dem Moment, als der Dicke mir die ‚Glamour’ weggenommen hatte, war wahrscheinlich die Bombe explodiert und hatte Menschen in Stücke gerissen - darunter drei Deutsche.
Ich bin geschockt oder denke es zu sein. Vielleicht bilde ich mir nur ein geschockt zu sein, vielleicht denke ich, ich müsste geschockt sein.
Am liebsten würde ich jetzt raus rennen, schreien und mir richtig wehtun – kein Geritze oder Derartiges. Das würde mich nicht umbringen, ich denke eher an Feuer, viel Feuer.
Jetzt schaut er mich an, kann er meine peinlichen Gedanken lesen? Hoffentlich.
Das waren wieder mehr als fünf Sekunden. Er soll mich nicht mehr anschauen, er tut es auch nicht mehr, ich glaube, er hasst mich. Wahrscheinlich denkt er, ich wäre froh darüber, dass Ungläubige gestorben sind, denn ich sehe aus wie eine Moslemin, na ja, ich bin ja auch eine.
Der ganze Raum füllt sich mit Hitze – warum macht keiner die verdammte Heizung aus - wir haben Sommer. Ich kann jetzt die wässrige Hitze sehen, wie sie aufsteigt, sich bis zur Decke schlängelt und die Wände herunter fließt. Und sie fließt über mich, Schande über mich.
Wie kann ich nur den gleichen Glauben wie diese Terroristen haben, die davon überzeugt sind im Namen eines angeblichen Allahs diese verdreckte Welt zu bereinigen?
Das ist einer der vielen Momente in meinem Leben, in denen ich anfange, an meinem Gott zu zweifeln - und nie waren die Zweifel berechtigter.
Die Schande fließt weiter, prallt auf den Boden und gibt einen lauten Schall von sich, vergleichbar mit einem überirdischen Donner.
Sie denken bestimmt, ich hätte schon allein wegen meines Glaubens etwas mit dem Anschlag zu tun.
„Habe ich nicht!“, will ich diesen Menschen klarmachen.
Endlich fängt es an, alles andere habe ich nicht verdient. Das ist meine gerechte Strafe. Der Teppich fängt Feuer.
Es verbreitet sich zu den anderen Patienten – nein, sie haben es nicht verdient, ich bin die Schuldige. Dieser Feuerteppich sollte mich schlucken, sich durch meinen Körper fressen, mich meine gerechte Strafe spüren lassen und anschließend in denselben Qualen zu sterben, welche die Opfer ertragen mussten.
Stattdessen starre ich entsetzt auf den Teppich, habe die Arme verschränkt, die Beine zusammen unter dem Stuhl versteckt und fühle mich nur fremd - nicht geschockt darüber, dass an diesem Tag Menschen auf brutale Weise umgebracht worden sind.
Bald steht der ganze Raum in Brand. Die Leute im Zimmer verbrennen, schreien, fangen an zu schmelzen.
Ich verbrenne – die Haut zieht sich wie sengendes Plastik zusammen, das Wasser verdunstet, der Glaskörper brodelt vor sich, meine Haare werden zu einer glühenden Masse. Das Feuer, das mich gierig auffrisst, hat sich bis zu meinen inneren Organen vorgedrängt und verschlingt sie genüsslich. Gott, ist das ein gutes Gefühl. Die Hitze lässt mich in eine Pfütze aus Fleisch und Knochen zergehen.
„Mein Gott, Sie schwitzen ja so. Haben Sie Fieber?“, fragt die Frau neben mir. Und ich schaue ihr direkt in die Augen und erkenne reine Besorgnis.
Alles löst sich in diesem Moment und ich kann den Tränenfluss nicht mehr aufhalten.
„Nein, mir geht’s gut.“
Und damit habe ich die Aufmerksamkeit aller auf mich gelenkt und bevor man mich weiter beobachtet und beachtet, stürme ich nach draußen.
Geändert von JoBlack (29.05.2007 um 20:19 Uhr).